Seit 1933 versucht das nationalsozialistische Regime, Jüdinnen und Juden aus Deutschland zu vertreiben. Nach der Besetzung Österreichs und der Tschechoslowakei 1938/39 werden Jüdinnen und Juden dort ihres Eigentums beraubt und über die Grenzen in die Nachbarländer abgeschoben. Die Emigration aus dem deutschen Machtbereich ist noch bis 1941 möglich. Nur wenige Länder sind jedoch zur Aufnahme der Verfolgten bereit. Ziele sind neutrale Staaten in Europa wie etwa die Schweiz, verschiedene Länder in Nord- und Südamerika oder das britische Mandatsgebiet Palästina. Manche fliehen vor ihren Verfolgern quer durch Europa. Die Zufluchtsländer erreichen sie häufig mittellos. Einige Länder weisen jüdische Geflüchtete wieder aus. Manchen Verfolgten gelingt die Flucht erst nach mehreren Versuchen, viele werden von ihren Verfolgern aufgegriffen und später Opfer des nationalsozialistischen Massenmords.

Flucht über die Berge

Tausende Jüdinnen und Juden versuchen, in die Schweiz oder über Portugal nach Amerika zu fliehen. Wichtige Fluchtrouten führen über die Pyrenäen nach Spanien und über die Alpen in die Schweiz. Die Flüchtlinge müssen unerkannt die deutsch kontrollierten Gebiete und Landesgrenzen passieren. Eine wichtige Rolle spielen daher Menschen mit guten Orts- und Grenzkenntnissen. Helferinnen und Helfer beschaffen falsche Papiere und organisieren Quartiere an den Zwischenstationen. Schleuserinnen und Schleuser bringen Flüchtlinge in Zügen und Lastwagen in grenznahe Orte. Nicht immer sind sie zuverlässig, häufig verlangen sie hohe Summen von den Flüchtenden. Kurz vor der Grenze übernehmen ortskundige Bergführerinnen und -führer. Sie bringen die Flüchtenden nachts auf Schleichwegen durch das Gebirge über die Grenze. Nicht allen gelingt die Flucht. Sie werden an der Grenze zurückgewiesen oder ihren Verfolgern ausgeliefert.

 

Odyssee durch Europa – Die Kinder der Villa Emma

Die jüdische Hilfsorganisation Kinder- und Jugend-Alijah organisiert die Flucht von über 130 Kindern aus Deutschland und Österreich. Die Gruppe bricht im April 1941 in Richtung Palästina auf. Mit dem Zug erreicht sie Zagreb in Kroatien. Von dort kann ein Großteil der Kinder nach Palästina weiterreisen. Die übrigen 43 erhalten keine Einwanderungspapiere und müssen in Zagreb bleiben. Auch hier werden Jüdinnen und Juden verfolgt. Die Kinder werden daher im Juli 1941 nach Lesno Brdo in Slowenien gebracht. Als dort Kämpfe zwischen italienischen Soldaten und jugoslawischen Partisaneneinheiten ausbrechen, werden sie nach Italien gebracht. Sie leben in einer Villa, die die italienisch-jüdische Hilfsorganisation DELASEM angemietet hat. Nach der Besetzung Italiens durch deutsche Truppen im September 1943 sind die Kinder auch hier bedroht. Einheimische verstecken sie, bis der Gruppe schließlich im Oktober 1943 die Flucht in die Schweiz gelingt.

„Der Morgenzug Zagreb–Karlovac–Ljubljana brachte uns aus der gähnend leeren Hauptstadt Kroatiens fort. Wir seufzten auf. Aber wussten wir denn, dass wir ohne Pässe, ohne Geld fuhren? Wir haben es erst nach einem Monat erfahren, als wir längst in Sicherheit waren. 56 Chawerim (Freunde), mit Rucksäcken bewehrt, saßen in den Abteilen des Zuges.“

Leo Koffler in einem Erinnerungsbericht, Sommer 1944

 

Flucht über das Mittelmeer in die Türkei

Im Frühjahr 1941 besetzen deutsche Truppen Griechenland. Die jüdische Bevölkerung wird zwischen Frühjahr 1943 und Sommer 1944 beinahe vollständig in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Treblinka verschleppt und ermordet. Nur wenigen gelingt die Flucht über das Ägäische Meer in die Türkei und von dort in das von Großbritannien kontrollierte Palästina. Mit Hilfe griechischer Widerstandsgruppen und der Hilfsorganisation Jewish Agency bringen Partisanen der Volksbefreiungsarmee ELAS etwa 1.500 Verfolgte in die Türkei, eines der wichtigsten Transitländer. Von Oktober 1943 bis September 1944 fahren kleine Motor- und Segelboote mit jeweils bis zu 60 Menschen über das Mittelmeer. Sie starten von der südgriechischen HalbiInsel Euböa zum Hafen von Izmir in der Türkei. Die Boote hissen zur Tarnung oft Hakenkreuz-Fahnen, damit sie nicht von patrouillierenden deutschen Schiffen gestoppt werden. Die Flüchtlinge müssen sich während der Überfahrt verstecken.

„Die Besatzung des Bootes bestand aus drei Personen: dem Kapitän, dem Maschinisten und einem Schiffsjungen. Als auch der letzte eingestiegen war, sagte der Kapitän zu uns: ‚Ich werde euch mit einer Plane zudecken, und keiner wird sich rühren, damit wir kein Angriffsziel bieten.‘“

 Avraam Katalan in einem Erinnerungsbericht, nach 1945

 

Gescheiterte Flucht nach Palästina – Flüchtlingsschiff Struma

Am 12. Dezember 1941 legt das Schiff Struma vom Hafen Konstanza (Constanţa, Rumänien) ab. An Bord befinden sich über 760 jüdische Verfolgte, meist aus der Bukowina und Bessarabien (heute Rumänien, Moldau, Ukraine). Sie fliehen über das Schwarze Meer in Richtung Palästina, das unter britischer Mandatsherrschaft steht. Das Schiff wird aufgrund eines Motorschadens in den Hafen von Istanbul geschleppt. Die türkischen Behörden verweigern die Landung, da die Flüchtlinge keine gültigen Visa haben. Auch Verhandlungen mit der britischen Regierung über eine Einreise nach Palästina scheitern. Am 23. Februar 1942 schleppt die türkische Marine das beschädigte Schiff ins Schwarze Meer zurück. Dort wird das Schiff von einem Torpedo getroffen und sinkt. Nur ein Mann überlebt, alle anderen sterben.

 

Flucht aus dem Warschauer Ghetto mit der Straßenbahn

Jüdinnen und Juden versuchen auch in der Straßenbahn aus dem Warschauer Ghetto zu fliehen. Täglich fahren Trambahnen mit nichtjüdischen Passagieren durch das Ghetto – bewacht von polnischen Polizisten. An manchen Stellen fahren die Bahnen langsamer. Der achtjährige Ludwik Brylant springt zweimal auf die fahrende Tram auf, wird jedoch jedes Mal gefasst und misshandelt. Beim dritten Mal gelingt ihm die Flucht: Ende 1941 springt er erneut auf die Straßenbahn auf und kann sich mit Hilfe eines polnischen Passagiers dort verbergen. Drei Haltestellen weiter springt Ludwik Brylant ab und entkommt. Er taucht zunächst bei einem nichtjüdischen Bekannten seines Vaters unter und überlebt in einem katholischen Waisenhaus.

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