Netzwerke

An einem Rettungsversuch sind meist viele Menschen beteiligt. Häufig sind es zunächst Einzelne, die Jüdinnen und Juden angesichts einer aktuellen Bedrohungssituation helfen und dann in ihrem Umfeld Unterstützung suchen. Mitunter entstehen daraus größere Hilfsnetzwerke. Auch bestehende Widerstandsgruppen sowie kirchliche und jüdische Hilfsorganisationen für Flüchtlinge beteiligen sich an Rettungsaktionen und arbeiten mit verschiedenen Netzwerken und in kleineren Gruppen zusammen. Weil in Netzwerken viele Menschen beteiligt sind, ist die Gefahr größer, festgenommen und entdeckt zu werden.

Żegota – Rat zur Unterstützung der Juden

Im Dezember 1942 entsteht in Warschau ein geheimes Komitee zur Rettung und Unterstützung von Jüdinnen und Juden – Żegota. In der Hilfsorganisation engagieren sich Menschen unterschiedlicher politischer Richtungen, darunter auch viele Jüdinnen und Juden. Die Zentrale befindet sich in Warschau, weitere Standorte sind in Krakau, Lemberg, Zamość und Lublin. Die polnische Exilregierung und ausländische jüdische Hilfsorganisationen finanzieren die Arbeit. Die Mitglieder von Żegota unterstützen Ghettoinsassinnen und -insassen, verhelfen ihnen zur Flucht und beschaffen Verstecke. Die Organisation richtet verschiedene Referate ein. Diese sind zuständig fur die Beschaffung von geheimen Unterkünften, Arbeit, Nahrungsmitteln, Kleidung und Medizin. Żegota fälscht Tausende Papiere und unterstützt Untergetauchte finanziell. Mit Flugblättern ruft der Rat die Bevölkerung dazu auf, verfolgte Jüdinnen und Juden zu unterstützen. Die Krakauer Sektion von Żegota verhilft Jüdinnen und Juden zur Flucht nach Ungarn. Allein in Warschau unterstützt Żegota bis zu 4.000 Menschen.

Westerweel-Gruppe

Der Lehrer Johann (Joop) Westerweel lernt 1941 zahlreiche junge Chaluzim (zionistische Pioniere) aus Loosdrecht bei Amsterdam kennen. Mit den Leitern ihrer Jugendgruppe gründet er ein Netzwerk zur Rettung der jungen Menschen. Als im August 1943 die Deportation droht, verschaffen Westerweel und seine Frau Wilhelmina mit Hilfe von Freundinnen und Freunden allen 50 Chaluzim Verstecke. Bald richtet die Gruppe Fluchtrouten ein. Westerweel und sein Helferkreis schleusen Flüchtlinge über Belgien und Frankreich nach Spanien und in die Schweiz. Anderen verschaffen sie Tarnidentitäten, mit deren Hilfe sie überleben.

Im Dezember 1943 wird Wilhelmina Westerweel festgenommen. Joop Westerweel taucht daraufhin unter und schleust kurze Zeit später wieder eine Gruppe außer Landes. Er und weitere Helferinnen und Helfer werden dabei festgenommen und in das KZ Herzogenbusch eingeliefert und misshandelt. Am 11. August 1944 wird Joop Westerweel ermordet. Die Gruppe setzt trotzdem die Arbeit fort und schmuggelt noch weitere 200 Jüdinnen und Juden nach Frankreich. Insgesamt rettet sie etwa 300 Verfolgte.

„Es kamen durchlaufend Chawerim aus Holland an, für die man in Paris sorgen musste, bevor sie weiter nach Toulouse geschickt wurden, um über die Pyrenäen zu gehen. Wir versorgten [sie] mit Lebensmittelkarten, Papieren, Zimmer, Geld, Kleidung usw.“

Jael Burstein, geb. Lolly Eckhard in einem Erinnerungsbericht, April 1956

 

Carl Fredriksen Transport

Unter dem Tarnnamen Carl Fredriksen Transport retten eine Handvoll Menschen 350 norwegische Jüdinnen und Juden sowie Hunderte von Widerstandskämpferinnen und -kämpfern. Es ist die umfangreichste Rettungsaktion in Norwegen. Im November und Dezember 1942 fahren zwei Lastwagen an fünf Tagen pro Woche mit bis zu 40 Flüchtlingen über die Grenze nach Schweden. Alf Pettersen arbeitet bei einer großen Transportfirma. Er stammt aus der Grenzregion und kennt sichere Fluchtrouten. Als sein Freund Rolf Syversen ihn bittet, einer jüdischen Familie zu helfen, fährt er diese an die Grenze. Danach setzen Pettersen und Syversen ihre Hilfe fort. Kopf der Gruppe ist Reidar Larsen. Als Fuhrparkleiter der Transportfirma stellt er Lastwagen und Fahrer bereit. Die Gruppe wird von norwegischen Widerstandsorganisationen unterstützt. Sie beschaffen Geld, um Fahrer und Treibstoff zu bezahlen. Anfang Januar 1943 enttarnt die Gestapo die Gruppe. Einige entkommen mit ihren Familien nach Schweden. Andere werden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Syversen wird in das Lager Grini verschleppt und erschossen.

„Wir wurden an einem Kontrollpunkt angehalten, draußen wurde laut deutsch gesprochen. Wir saßen unter einer Plane, in der Mitte hinter der Fahrerkabine. Der Rest war mit Kartoffeln gefüllt. Mama sagte, wir sollen wie eine Kartoffel sein, ganz still. Ich habe gehört, wie die Soldaten Bajonette von der Seite in die Ladung gesteckt haben, aber sie haben nur die Kartoffeln getroffen.“

Hanne-Lore Frank in einem Interview, 2017

 

Hilfsnetzwerk um Harald Poelchau

Der Gefängnisseelsorger Harald Poelchau und seine Frau Dorothee aus Berlin sind von Beginn an entschiedene Gegner der nationalsozialistischen Diktatur. Angesichts der Judenverfolgung ist Poelchau entschlossen zu helfen. Mit Beginn der Deportationen im Oktober 1941 hilft er Jüdinnen und Juden unterzutauchen. Dabei unterstützen ihn seine Frau Dorothee, Freundinnen und Freunde sowie Bekannte. Harald Poelchau organisiert Unterkünfte, Lebensmittel und Papiere sowie Arbeitsmöglichkeiten. Bei der Hilfe für Untergetauchte arbeitet er auch mit einem Netzwerk zusammen, das sich „Onkel Emil“ nennt.

Harald Poelchau bestellt auch hilfesuchende Jüdinnen und Juden in sein Dienstzimmer im Gefängnis Berlin-Tegel. Dort können sie mit ihm frei über die Situation und konkrete Hilfe sprechen. Verfolgte, die sich telefonisch im Gefängnis melden, sprechen erst, wenn sich Poelchau mit dem vereinbarten Kennwort „Tegel“ gemeldet hat.

„Wir waren uns auch alle darüber klar, daß diese Hilfe für den Helfer Lebensgefahr bedeutete. … Das Verbergen von Illegalen war in damaliger Zeit fast unmöglich. Man konnte keinen Menschen wochenlang in ein Zimmer sperren, von jedem Verkehr mit der Außenwelt abschneiden. … Zudem hört man in Großstadthäusern fast alles, was in den Nachbarwohnungen geschieht.“

Harald Poelchau in seinen Erinnerungen, 1965

 

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